Brandenburg an der Havel
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Aufbruchsstimmung

Im Sommer 1989 entgehen Hunderttausende DDR-Bürger der Erstarrung des reformunfähigen Staates mit Ausreise oder Flucht. Auch der Verwaltung der Stadt Brandenburg liegen zum 21. September insgesamt 463 Ausreiseanträge von 1101 Menschen vor. In den ersten Oktobertagen registrieren die Sicherheitsorgane schließlich erste Anzeichen zivilen Ungehorsams in Brandenburg. So verweigern 13 wegen Republikflucht inhaftierte Strafgefangene der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg am 3. Oktober 1989 die Nahrung. Mit diesem Vorgehen wollen sie ihre Ausreise aus der DDR erwirken.

Als die Opposition nachweisen kann, dass SED-Funktionäre die Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 gefälscht haben, beschleunigt sich das Aufbegehren. Mit der Gründung des „Neuen Forums“ im September 1989 in Grünheide bei Berlin organisieren sich die Bürgerrechtler erstmals. Angeregt von diesem wichtigen Signal gründet sich am 20. Oktober in den Räumen der evangelischen Kirche in Kirchmöser-West die Regionalgruppe des „Neuen Forums“. Einen Tag später finden im Dom zu Brandenburg Informationsveranstaltungen des „Neuen Forums“ statt. Zum ersten Mal erlebt die Stadt damit öffentliche regimekritische Veranstaltungen. Das Ereignis mit 3000 Teilnehmern findet in den Brandenburger Zeitungen, der „Märkischen Volksstimme“ und den „Brandenburger Neuesten Nachrichten“, keine Erwähnung. Zu diesem Zeitpunkt wird die Presse noch von der Staats- und Parteiführung gelenkt, eine demokratische Kultur der freien Berichterstattung gibt es nicht.

Wie die Menschen in anderen Teilen des Landes erleben auch die Brandenburgerinnen und Brandenburger in diesem Herbst eine Reihe von Veranstaltungen der freien Diskussion und des Protestes. Die Kultur- und Sporthalle des VEB Stahl- und Walzwerk Brandenburg (Stahlhalle) in der Magdeburger Landstraße 228 ist am 30. Oktober Schauplatz eines offiziellen Dialoges zwischen staatlicher Leitung und Bevölkerung. 3000 Menschen wollen Zeugen sein, wenn Klartext geredet wird.

Trotz der Grenzöffnung in Berlin kommen am 12. November ungefähr 8?500 Bürgerinnen und Bürger zu der vom „Neuen Forum“ veranstalteten Demonstration für eine lebenswerte sozialistische Gesellschaft. Der Zug bewegt sich durch die Steinstraße zum Neustädtischen Markt. Viele Menschen tragen selbst gefertigte Transparente mit Forderungen nach demokratischer Mitbestimmung. Eine Auswahl dieser Plakate ist heute im Stadtmuseum zu sehen.

Neustaedtischer-MarktAuch die Staatssicherheit ist auf der Veranstaltung präsent. Sie fotografiert Personen, die aus ihrer Sicht durch provokante Plakataufschriften oder Handlungen auffallen. Stasi-Mitarbeiter kontrollieren Veranstaltungsteilnehmer mit den Spruchbändern „Deutschland einig Vaterland“, „Wir fordern: Schluss mit der führenden Rolle der SED“, „Freie demokratische Wahlen“, „Stasi in die Produktion“, „Umweltschutz statt Umweltschmutz“ und „Privilegien für alle“.

In den folgenden Wochen bekommen die Vertreter der Staatssicherheit wiederholt die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Anwesenheit der Geheimpolizei zu spüren. Unter dem Motto „Ich will meine Akte sehen!“ hält die Jugendgruppe des „Neuen Forums“ am 5. Dezember eine Mahnwache vor der Brandenburger Außenstelle des Ministeriums für Staatssicherheit. Am 11. Dezember kommt die Anweisung zur Auflösung des Kreisamtes für Nationale Sicherheit. Die anschließende Übergabe der Waffen der Stasi an die Volkspolizei und die Kreisanwaltschaft beendet die Tätigkeit des Geheimdienstes in Brandenburg.

Nach dem Berliner Vorbild gründet sich am 19. Dezember der Brandenburger runde Tisch. Diese Institution versteht sich als moralische Autorität ohne rechtliche Befugnisse. Der runde Tisch bringt die Vertreter der amtierenden Kommunalverwaltung mit Abgesandten der Kirchen und Vertretern der neuen gesellschaftlichen Interessengruppen zusammen. In dem Ausschuss erarbeiten die Beteiligten Vorschläge zur Etablierung demokratischer Strukturen. Das Forum tagt bis zur ersten freien und geheimen Kommunalwahl am 6. Mai 1990.

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